„Eine gemeinsame Vision ist nur dann eine Vision, wenn sich viele Menschen ihr wahrhaft verschrieben haben, weil sie ihre eigene, ganz persönliche Zielstellung widerspiegelt.“ (Peter M. Senge).
Eine gemeinsame Vision setzt voraus, dass die offizielle Version der Unternehmensvision mit den persönlichen Visionen der Mitarbeiter in Einklang gebracht werden kann. Sie muss aufeinander abgestimmt sein, es braucht eine gemeinsame Version und daraus resultierende konkrete Leitlinien, die mit allen Beteiligten vereinbart werden – sonst geht es nicht. Da die meisten Menschen keine private Vision formuliert haben, muss man sich mit allgemein gültigen Zielvorstellungen von mündigen Mitarbeitern behelfen. Diese könnten lauten:
- ein hoher Grad an Selbstverwirklichung im Berufsalltag
- Anerkennung der Leistungen als Potenzialträger
- ein hoher Lebensstandard und Schutz für die Familie
- einen Beitrag leisten zur Entlastung der Umwelt
- Leben in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen usw.
Bevor ich auf die praktische und pragmatische Seite der Visionsarbeit eingehe, einige grundlegende Überlegungen: In der Sinnergie haben wir uns viele Gedanken gemacht über Transformationen in physikalischen und lebenden Systemen. Das Spezielle am Handlingsystem ist, dass das menschliche Ich – analog zu seiner Gehirnstruktur – drei Ebenen umfasst, nämlich die geistige, die emotionale und die spirituelle Ebene. Letztere bezeichnet die Ebene, auf der wir Fragen des Sinns zu verstehen suchen. Dass dies nicht unbedingt religiös besetzt sein muss, versteht sich von selbst.
Während auf der geistigen Ebene ein Mensch das explizite Denken mit der Fähigkeit, Probleme zu lösen, Regeln zu befolgen, um Ziele zu erreichen, vollzieht, wird auf der spirituellen Ebene definiert, welche Ziele wir für lohnenswert halten und welche Regeln zu befolgen wir bereit sind – sie lassen sich also aus unseren Zielen, Erinnerungen und Erlebnissen, aus unseren Visionen und Werten ableiten. Viele Erkenntnisse der Tiefenpsychologie liefern Beweise dafür, dass den meisten Phänomenen unser Sinnstreben, unsere Visionen und innersten Werte zugrunde liegen – also unsere spirituelle Seite.
Auch in jedem Unternehmen gibt es diese Ebenen. Die geistige Ebene ergibt sich aus den allgemeinen Denkweisen, den Regeln und den Argumenten für die Vorgaben von Prioritäten. In rein mechanistischen Unternehmen hat sich diese geistige Ebene so verselbständigt, dass Ergebnisse und Effizienz die Hauptrolle, wenn nicht die einzige Rolle spielen. In diesen Unternehmen wird gefragt: was ist die beste Methode, um eine Aufgabe zu erledigen? Nur selten wird dort gefragt: ist die Aufgabe lohnenswert? Oder „was bedeutet es, wenn wir diese Aufgabe erledigen“? Die Suche nach Prioritäten und Zielen schließt spirituelle Fragen immer mit ein, im Unternehmen wie bei Menschen. Sie basiert auf der Vision und den Werten des Menschen.
Bei jedem Menschen und bei jedem Unternehmen erfordert ein echter Wandel grundlegende Veränderungen auf allen Ebenen des menschlichen Ichs. Auf einzelne Ebenen beschränkte Veränderungen sind ineffizient! Ein Veränderungsprozess (Change Management), der sich beispielsweise nur an die geistige Ebene anbindet, führt in der Regel dazu, dass Unternehmen wie Menschen das Gleichgewicht verlieren und in mancher Hinsicht nach vorne preschen, während sie in anderer Hinsicht zurückbleiben. Soll jedoch ein Unternehmen als Ganzes gedeihen, müssen die Fortschritte auf allen drei Ebenen stattfinden. Das menschliche Ich besteht eben nicht aus drei „Abteilungen“ mit den Aufschriften „Geist”, „Herz“ und „Spirituelles”. Nach dem Modell der Sinnergie sind Unternehmen ein ganzheitliches System, das wie ein Organismus auch seine Organisation abzubilden hat.
Alle naturwissenschaftlichen Disziplinen des 20. Jahrhunderts, einschließlich der Biologie und natürlich der Chaosforschung bis hin zur Quantenphysik zeigen, dass die Welt nicht aus einzelnen isolierten Teilen, sondern aus eng miteinander verknüpften Systemen besteht. Jede Veränderung in einem Teil beeinflusst das Ganze. Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Steuerbarkeit, Vorhersagbarkeit, Programme, Gesetze und Regeln sind Notwendigkeiten. Wir brauchen sie, um in der Betriebsführung Verlässlichkeit schaffen zu können. Aber beschreiben diese Konzepte unsere heutige Welt denn noch zutreffend und werden sie den Bedürfnissen von Unternehmen und Menschen noch gerecht? Wie soll man denn Chaos programmieren? Wo sind die Gesetze, die das Verhalten (und damit auch die Kreativität und Produktivität) dessen lenken, was wir als “intellektuelles Kapital” bezeichnen? Die Idee der Sinnergie ist es ja, sowohl die mechanistischen Aspekte als auch das “intellektuelle Kapital”, also diejenigen Aspekte, die keine Maschine, kein System, kein Standard kopieren kann, zu verbinden.
Nach meinem Verständnis muss ein Unternehmen deswegen drei Formen der Intelligenz fördern:
- die geistige Intelligenz
- die emotionale Intelligenz
- die spirituelle Intelligenz
Victor Frankl, der Begründer der Logotherapie, hat uns gezeigt, dass das wichtigste Bedürfnis für Menschen ihr Streben nach Sinn ist. Es gibt zahllose Beispiele dafür, dass Menschen Bequemlichkeit, Gesellschaft, Nahrung und ihr Leben geopfert haben, weil sie höhere Ziele und Ideale verfolgten. In vielen Unternehmen gibt es Mitarbeiter, die freiwillig mehr Stunden für weniger Geld arbeiten, wenn sie erkennen, dass sie damit besonders spannende, sinnvolle Ziele und Aufgaben verfolgen. Selbstverständlich ist dieses Bedürfnis nach Sinn nicht zu trennen von anderen Bedürfnissen wie Sicherheit, materiellen Erfolgen, gesellschaftliche Anerkennung und Selbstachtung. Jede Ebene des Ichs durchdringt jede andere Ebene.
Das Ich ist ein dynamisches System, und unsere Bedürfnisse beeinflussen sich gegenseitig auf dynamische Weise. Dies gilt für Personen wie für Unternehmen. Wir können das Gewinnstreben oder die Effektivität unseres Unternehmens nicht vom Bedürfnis trennen, den Mitarbeitern Selbstachtung zu geben oder eine anspruchsvolle Vision zu verfolgen. Vieles läuft im Unternehmen nur deshalb schief, weil dieser grundsätzliche, ganzheitliche, systemische Aspekt der Struktur nicht verstanden wird.
Auf der spirituellen Ebene eines Unternehmens ist die Vision angesiedelt. Mit der Vision meine ich nicht nur „welche Pläne für die kommenden fünf Jahre”, sondern etwas viel Grundsätzlicheres. Mit der Vision meine ich den allumfassenden – und oft unbewussten – Sinn für die Identität eines Unternehmens, für seine Ziele, sein Selbstbild, seine wichtigsten Werte, seine Motivationen und langfristigen Strategien. Bei allen Fragen im Unternehmen muss das Unternehmen wie der Einzelne immer in der Lage sein, auf sein spirituelles Zentrum zuzugreifen. Dies ist die einzige Ebene, von der aus bestehende Annahmen, Führungsmuster und Strukturen verändert und gestaltet werden können.
Unechte und echte Visionen
Wenn man sich diese grundlegenden Gedanken bewusst macht, so wird deutlich, wie flach der Begriff Vision oft in der Praxis verwendet wird. In vielen Unternehmen werden vermeintliche Visionen kultiviert, die diesen hohen Anspruch in keiner Form verdienen. Was soll denn bitte visionär sein, der höchsten Qualität nachzustreben, dem Kunden optimal zu dienen, einen Gast höflich und freundlich zu bedienen, Mitarbeiter bei Entscheidungen einzubeziehen, Arbeitsprozesse zu verbessern, kostenbewusst zu arbeiten und die Ertragskraft des Unternehmens zu sichern? Diese Platitüden sind bestimmt nicht das, was hart arbeitende Menschen beseelt.
Werte, die unterschiedslos für jede beliebige Tätigkeit auf dieser Welt gelten können, werden sicher nicht das Antriebsmoment sein, in einem Unternehmen die Erfüllung seiner beruflichen Wünsche zu suchen. Wer Mitarbeiter auf einer unvergleichlichen Plattform zusammenführen möchte, der muss über Visionen tiefer nachdenken, sich zu welt- oder marktbewegenden Daten verpflichten, sich auf die spirituelle Ebene konzentrieren und weg kommen von den „Visionen”, wie sie in der Massenkonfektion vorkommen.
Wenn ein Autoreifenhersteller die Aussage treffen würde: wir machen den rutschfesten Reifen (und senken die Rate der Glatteistoten um 60 %), so wäre das mit Sicherheit ein Ziel, das auch schlafende (sogar potenzielle) Mitarbeiter hinter dem Ofen hervorlocken kann. Echte Visionen kommen von Menschen, die sich mit wirklichen Problemen beschäftigen – sie sind selten das Ergebnis „sorgfältiger Diskussionen”, bei der Formulierungen wieder und wieder in Frage gestellt werden, bis sie in die veröffentlichungsreife Form eines Unternehmensnorm oder eines Leitbildes gegossen werden können.
Halten wir noch einmal fest: jede reifende Vision sollte mindestens vier Voraussetzungen erfüllen:
- die Mitarbeiter müssen sich mit der Vision identifizieren, damit sie ihre Erfüllungsgehilfen werden
- die Vision muss praktikabel sein, d.h., in Einzelziele der Tagesarbeit zerlegt werden können
- die Formulierung darf nicht starr und dogmatisch ausfallen, sondern muss eine schrittweise Anpassung an die Realität zulassen
- eine Vision hat nur Aussicht, verwirklicht zu werden, wenn sie durch die Potenziale und Ressourcen eines Unternehmens gedeckt wird. Visionen, die zwar Utopien und Träume zulassen, aber nicht praktikabel sind, mögen sich zwar für die Öffentlichkeitsarbeit eignen, für das Management von Unternehmenspotenzialen sind sie bestimmt untauglich.