Viele Familienunternehmen befinden sich aktuell in einer herausfordernden, wenn nicht in der herausforderndsten Phase der letzten Jahrzehnte. Nach einer langen Wachstumsphase folgt Stagnation, gepaart mit erheblichen Unsicherheiten an den Märkten. Ein Weckruf für viele Unternehmen, den Fokus von der reinen Markt- und Wachstumsbetrachtung auf das Innere der Organisation zu lenken und nach möglichen Einsparungen zu suchen. Schnell fällt der Blick auf das Thema Prozessoptimierung, doch was viele Unternehmen nicht berücksichtigen, ist deren Limitation.
Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Prozessverbesserungen nur etwa 30% der Performance verbessern können (Quelle: A. Suter, S. Vorbach, D. Wild-Weitlaner: Die Wertschöpfungsmaschine, München 2019, S. 31). Danach stoßen sie an organisatorische Grenzen. Gerade Familienunternehmen mit ihren hierarchischen Strukturen, die sich über viele Jahre entwickelt haben, stellen dabei keine Ausnahme dar. Genau aus diesem Grund sollten sie bei der reinen Prozessverbesserung nicht Halt machen, sondern noch einen Schritt weiter gehen. Die Rede ist von möglichen organisatorischen Anpassungen und der Transformation von einer rein funktionsorientierten zur prozessorientierten Organisation, welche den idealen Ansatzpunkt für bisher nicht bekannte Potenziale bietet.
Die rein funktionsorientierte Organisation hat ausgedient
Viele Unternehmen folgen auch heute noch immer dem Ansatz, sich in fachspezifischen und abgegrenzten Funktionseinheiten zu organisieren: der funktionsorientierten Organisation. Diese Art der Aufbauorganisation zeichnet sich durch einen hohen Spezialisierungsgrad und ausgeprägte Fachkompetenz innerhalb der einzelnen Einheiten aus und sorgt bereits seit dem 18. Jahrhundert für Produktivitätssteigerung und Skaleneffekte. Eine Organisationsform, die für die damalige Zeit einen wahren Quantensprung bedeutete und noch heute für gleichartige, sich wiederholende Aufgaben, die ideale Basis effizienten Arbeitens darstellt.
Doch genau hier liegt die Herausforderung der heutigen Zeit. Wir befinden uns in einer Marktumgebung, die unvorhersehbarer als jemals zuvor ist, deren Kundenanforderungen immer individueller werden und deren Produkte einen hohen Technologisierungsgrad aufweisen. Die Zeiten der einfachen, gleichartigen und sich wiederholenden Aufgaben sind längst vorbei und schnelle Reaktions- und Anpassungsfähigkeit sind wichtiger denn je. Um diese Anforderungen zu erfüllen, müssen funktionsorientierte Abteilungen von ihrem Standardvorgehen abweichen. Es müssen individuelle Lösungen gefunden werden und einzelne Abteilungsziele müssen übergeordneten Zielsetzungen weichen. In der Theorie einfach, doch die über Jahre entstandenen Abteilungssilos gepaart mit den hierarchischen Strukturen, die wir in vielen Familienunternehmen vorfinden, gestalten die Situation schwierig und müssen erst einmal überwunden werden. Es entsteht ein hoher Abstimmungsaufwand, verbunden mit entsprechenden Reibungsverlusten.
Die Folge sind häufig nicht nur Kommunikationsprobleme, sondern auch Abstimmungsschleifen und resultierende Wartezeiten in innerbetrieblichen Abläufen. Auch Qualitätsmängel und Nacharbeit sind keine Seltenheit. Verbunden mit dem zurückliegenden Wachstum vieler Organisationen stellt die funktionsorientierte Organisation somit eine echte Herausforderung für die heutigen Anforderungen dar und auch die besten Prozesse können aufgrund der vielen Schnittstellen nur bedingt Abhilfe schaffen. Doch wie sollen sich Unternehmen aufstellen, um zukünftig reaktionsfähig und effizienter zu sein?
Effizient und reaktionsfähig mit der prozessorientierten Organisation
Einen der zentralen Ansatzpunkte stellt die prozessorientierte Organisation und ihr ganzheitlicher Blick auf das Unternehmen dar. Diese definiert sich durch die konsequente Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Kunden in Form von wertschöpfenden Ende-zu-Ende gedachten Prozessen (E2E-Prozesse). Ganz neu ist auch dieser Ansatz nicht. Schon Michael E. Porter trennte in seinem Modell der Wertekette in den 80er Jahren Unternehmensaktivitäten in primäre und unterstützende Aktivitäten. Primäre Aktivitäten umfassen dabei wertschöpfende Tätigkeiten, die einen direkten Bezug zum hergestellten Produkt aufweisen und somit einen Beitrag zum wirtschaftlichen Ergebnis des Unternehmens leisten. Sie wurden als Kernprozesse definiert. Unterstützende Aktivitäten besitzen hingegen keinen direkten Bezug zu den hergestellten Produkten und Dienstleistungen, sind aber von hoher Relevanz, um die Kernprozesse realisieren zu können. Sie werden deshalb als Supportprozesse bezeichnet.
Die prozessorientierte Organisation greift genau diese Logik auf. Sie orientiert sich an den für das Unternehmen relevanten Kernprozessen, bringt diese in eine Ende-zu-Ende-Beziehung zum Kunden und gestaltet darauf basierend den Aufbau der Organisation. So stellt in vielen Unternehmen beispielsweise der Prozess Order-to-Delivery – von der Bestellung bis zur Auslieferung – einen zentralen E2E-Prozess dar. Mit einer organisatorischen Ausrichtung in Form von E2E-Prozessen lässt sich die Vielzahl an bestehenden Schnittstellen, die heute zwischen den Fachabteilungen bestehen, auflösen, da sich die Abteilungen fortan in Form der Kernprozesse formieren. Die Umgestaltung ermöglicht, das Hauptaugenmerk auf die Abläufe zu legen und den Kunden immer in den Fokus des wirtschaftlichen Handelns zu stellen. Somit kann eine effiziente Durchführung der Prozesse gewährleistet werden, ohne auf Einzelinteressen von isolierten Fachabteilungen Rücksicht nehmen zu müssen.
Die zielgerichtete Überführung von funktionalen Strukturen in eine prozessorientierte und kundenzentrierte Organisation hilft Unternehmen somit, die Zusammenhänge der unterschiedlichen Aktivitäten zu erkennen und eine höhere Reaktionsfähigkeit gegenüber Kundenbedürfnissen zu zeigen. Darüber hinaus lassen sich die Dimensionen Kosten, Zeit und Qualität ganzheitlich am Kunden ausgerichtet steuern und entwickeln. Eine konsequent am Kunden ausgerichtete Prozessorganisation erhöht damit wesentlich die Schlagkraft eines Unternehmens und stärkt die Wettbewerbsposition: Studien zeigen, dass eine Prozessverbesserung, die in einer funktionsorientierten Organisation auf 30% limitiert ist, sich so bis auf 200-400% steigern lässt. Die prozessorientierte Organisation bringt somit Potenziale mit sich, die für viele Unternehmen bisher nicht greifbar waren.
Freie Fahrt für E2E-Prozesse durch radikales Umdenken
Um eine erfolgreiche Transformation von einer funktionsorientierten hin zu einer prozessorientierten Organisation umzusetzen, gilt es einem klaren Vorgehen zu folgen.
- Radikales Umdenken
Im ersten Schritt erfordert eine prozessorientiere Organisation ein radikales Umdenken und die Einnahme neuer Betrachtungswinkel auf das eigene Unternehmen. Mitarbeitende, die es über viele Jahre gewohnt waren in Fachabteilungen zu denken, müssen sich davon zukünftig verabschieden. Wird das Mindset nicht von der Geschäftsführung vorgelebt und in das gesamte Unternehmen gebracht, kann eine Transformation bereits vor dem Start im Keim ersticken. - Identifikation der relevanten E2E-Prozesse
Da die E2E-Prozesse den Rahmen der zukünftigen Organisation bilden, gilt es im zweiten Schritt die relevanten wertschöpfenden E2E-Prozesse zu identifizieren und diese aus Sicht des Kunden zu denken. Je nach Geschäftsmodell können sich diese unterscheiden. Wichtig ist es hier, diese unternehmensindividuell zu identifizieren und nicht auf vermeintliche Blaupausen zurückzugreifen. - Schaffung von E2E-Verantwortlichkeiten
Im dritten Schritt müssen Verantwortlichkeiten für die neuen E2E-Prozesse geschaffen werden. Die Verantwortlichen können bereits in der Detailausgestaltung mitwirken und sorgen in der Zukunft dafür, dass die Prozesse reibungslos ablaufen. Je nach Ausgestaltung können sie auch Personalverantwortung für die im Prozess beteiligten Mitarbeitenden übernehmen. An dieser Stelle ist auf das bevorstehende Konfliktpotenzial in der Organisation zu achten. Mit der Auflösung der bestehenden Abteilungsstrukturen geht selbstverständlich auch die vorhandene Autorität der Abteilungsleiter an die E2E-Verantwortlichen über. Nicht selten führt dieser Schritt zu großem Widerstand. Wichtig ist es hier, sensibel vorzugehen und die Führungskultur von einer Führung durch Position auf eine Führung durch Rolle zu verändern. - Umsetzung der neuen Struktur
Bei der Umsetzung gibt es unterschiedliche Ansätze. So können sich diese von einer radikalen Umsetzung, dem sogenannten „Big Bang“, bis hin zu einer phasenweisen Umsetzung, bei der man sich mit einem Prozess annähert, erstrecken. Zu berücksichtigen ist hier, dass eine Umsetzung eine gewisse Anlaufphase benötigt, bis die Vorteile spürbar wahrgenommen werden können. Viele Unternehmen zeigen hier nicht die notwendige Ausdauer und verfallen in alte Muster. Wer es aber ernst meint, muss langfristig durchgreifen. - Begleitung durch Training und Change-Management
Wie sich gezeigt hat ist eine Organisationsumstellung ein Prozess und kein kurzfristiges Ereignis. Somit sollte der Prozess der Umstellung über einen längeren Zeitraum von professionellem Coaching und Trainingsmaßnahmen begleitet werden.
Fazit
Die prozessorientierte Organisation bietet einen Ansatz, welcher es Unternehmen ermöglicht, sich reaktionsfähig und gleichzeitig effizient aufzustellen. Sie orientiert sich an den wertschöpfenden Prozessen und stellt den Kunden in den Mittelpunkt jedes unternehmerischen Handelns. Durch die Prozessorientierung werden Schnittstellen zwischen Abteilungen abgebaut und die Performance lässt sich auf ein Niveau heben, welches durch reine Prozessverbesserung nicht erreichbar wäre. Die organisatorische Transformation benötigt zwar etwas Zeit und eine wahre „Mindset“-Veränderung, doch gerade Familienunternehmen, die ihr Unternehmen in Generationen statt in Quartalen denken, können die langfristigen Effekte vollends ausschöpfen und ihre operative Exzellenz stärken. Sofern Ihr Unternehmen also nicht durch einfache, gleichartige und sich wiederholende Aufgaben seine Wertschöpfung erzielt, kann die prozessorientierte Organisation auch Ihrem Unternehmen einen langfristigen Mehrwert bieten.